Der Proceß des Verstehens: Kreative Annäherungen an Franz Kafkas Jahrhundertroman

Kafka.Gasse.
Die Eine suchend, rastlos, in Selbstzweifeln versunken, die Andere selbstbewusst und wunderschön (Nina B.)
Sie haben geschuftet; sie sind in Wort und Bild (Josephine, Bild oben; Verena, Bild unten) kreativ geworden; sie haben sehr viel eingebracht: Die Schüler des Deutsch-LKs der jetzigen Q2 durften und mussten sich im auslaufenden Halbjahr Zugänge zu der geheimnisvollen Proceß-Welt des 1924 verstorbenen Franz Kafka suchen. Inspiriert von Piranesis Radierung Carceri XIV wendeten sie schwerpunktmäßig kreative Verfahren an, um das Wesen des Prozesses im gleichnamigen Roman zu ergründen: Mit beachtlichen Ergebnissen.

Die Kursteilnehmer nahmen die Rolle des Autors höchstselbst ein, der sich im Bewusstseinsprotokoll bei der Arbeit beobachtet. So schreibt Kafka alias Nilo zu seinem Advokaten-Kapitel unter Verweis auf die Türhüter-Parabel Folgendes:“Man sollte doch glauben, eine Entscheidung zu fällen, bedeutet, sich selbst von dem Zustand des Zwiespaltes und der Unsicherheit zu befreien, den Kopf klarzukriegen und mit dem erhofften Ziel einen vorgegebenen Weg zu besitzen. Genau diese Theorie werfe ich um! Unentschlossenheit und Unsicherheit prägen doch unser Leben. Ehe du es sich versiehst, fällst du die falsche Entscheidung. Aber warum denn fällt es dir, Josef K., so schwer, eigene Entscheidungen zu treffen? Dieses Gefühl lässt sich die Menschen doch unfrei fühlen. Steht das Tor des Gesetzes nicht offen für dich, um das Gesetz zu betreten? Du wirst weder von Herrschern noch irgendeinem Befehlshaber unterdrückt. Und du wirst zu nichts gezwungen. Und doch bist du nicht durch das Tor gegangen und bist für deine Lage verantwortlich und trägst die Last deiner Schuld. Und ich, Franz Kafka, möchte schreibend ergründen, wie es dazu kommen konnte, dass ich dieses Advokaten-Kapitel derartig in die Länge schreiben musste. Mögen sich die Leser bei dir beschweren, mein Josef K. – nicht bei mir.“ Prozess.gimpJosephine protokolliert Kafkas Gedanken zu dem gehaltlich wohl zentralen Kapitel Im Dom: In meinem Kapitel soll K. den Prozess als notwendigen Teil seines Lebensweges begreifen. Mit den großen Fenstern des Domes verweise ich symbolisch auf die Hoffnung und mit der dunklen Wand des Bauwerkes auf das noch hoffnungslos Unklare in K.s Bewusstsein, in das bisher zu wenig wirklich vorgedrungen ist. K. bleibt weiterhin im Dunkeln, die Wand bleibt undurchbrochen. Ich versuche K. auf den Gedanken zu bringen, dass da mehr hinter dem Prozess steckt, als er bisher in Betracht gezogen hat. Der Geistliche fragt ihn: „Siehst Du denn nicht zwei Schritte weit?“. Doch anstatt dies zu hinterfragen, wird deutlich, dass K. sich auch jetzt auf keinen neuen Gedanken einlässt. K. kreist stattdessen weiterhin lediglich um Hierarchien der Macht: Steht der Geistliche über ihm? Und wieso kommt er nicht von der Kanzel herunter? Ich lasse den Geistlichen dem überraschten K. die Hand reichen, gebe ihm so Hilfe an die Hand und benutze das Licht als Erkenntnissymbol, wenn der Geistliche ihm die Laterne überreicht: K. soll verstehen, dass nur er allein zur Erkenntnis gelangen kann, wenn vielleicht auch zu keiner endgültigen. Ich lasse K. ein wenig im Dunkeln tappen, so wie er es auch psychisch tut und weise ihm doch den Weg. K. muss sich klar werden: Es gibt für ihn nur den einen Weg. Auf ihn muss er sich konzentrieren. Gehen muss er den Weg trotz der Weisung allein.Die Kursteilnehmer hatten den Auftrag, Ihre Lektüre-Eindrücke vor der Kursfahrt nach Prag sowie danach zu protokollieren. So schreibt Elina zu Beginn ihrer Lektüre – noch in Bonn: „Müde in der U-Bahn/ begleitet von Fremden und Lärm/ liest sich die erste Seite nur schwer./ Die Lider sind träge, die Sätze lang,/ doch hält mich irgendetwas im Bann./ Bonn Hauptbahnhof-Ist es schon soweit?/ weg ist die Zeit/ oder ist es doch nur die Müdigkeit?// Schon bin ich in der Stadt/ den Weg dorthin kaum gespürt/ wie taub gesteuert/ nur die Gewohnheit hat mich geführt.// Was will K. tun?/ Kein Ausweg in Sicht/ Nur dreitausend Wege im verblassenden Licht/ Doch welchen Prozess überdenk ich hier?“ Für den hohen Arbeits-Einsatz beim Prozess des Verstehens eines so komplexen Romans und den Wagemut der jungen Interpretinnen empfindet die Lehrkraft Bewunderung…
J. Juhre, Deutsch-Leistungskurs in der Q2