Der Titel der Inszenierung ist bereits wegweisend: Mit Gretchen nimmt Herr Biewalds Literaturkurs in der Q1 Goethes Frauenfigur und ihre persönliche Tragödie in den Blick. Die Art, in der dies geschieht, ist an Ausdruckskraft von geradezu expressionistischer Intensität. Erreicht wird dies durch kraftvolle Bilder, leuchtende Farben, mitreißendes Bewegungstheater mit Tanz und emblematischen Gesten, was aber immer im Dienst eines präzisen und geradezu zärtlichen Blickes auf die blutjunge Geliebte Fausts steht. Dieser opfert seine Liebe und bleibt in seiner vorwurfsvollen Haltung Gretchen gegenüber die moderne Variante des unreifen Mannes. Der Zuschauer der heutigen Zeit fühlt sich dabei nicht nur angesprochen, sondern geradezu ertappt, wenn Gretchen in seiner ganzen frommen Verzweiflung („Ach neige, du Schmerzensreiche“) von einem ignoranten sozialen Netzwerk umfangen bleibt, welches der modernen Bespaßungsindustrie frönt, über Smartphone-Oberflächen wischt und Eis isst, während die menschliche Tragödie in direkter Nachbarschaft ihren Lauf nimmt.
Die teils unselige und alles andere als aufklärerische Rolle moderner Medien wird ganz en passant deutlich, wenn hier der Leibhaftige (Moses Ezebugwu) auf einer Videoleinwand live dazugeschaltet ist, während der Mob tobt und Faust das Höchste, das er hat, verrät. Die simultane Mehrfachpräsenz der Gretchen- und Faustfiguren ermöglicht dabei feine Nuancierungen der Aussage, erzeugt kraftvolle Gruppenszenen und spiegelt einen gnadenlosen Hang zur Anonymisierung von Schuld und Verantwortung in der heutigen Zeit. Was dem Literaturkurs hier gelungen ist, bedeutet Theater auf einem außergewöhnlichen Niveau, das mit scheinbar großer Leichtigkeit den Weg in Kopf und Herz findet.
J. Juhre