Weit mehr als nur Lese-Empfehlung für diesen Sommer: Necati Öziris Roman Vatermal

Während in der Welt Kriege und Wahlkämpfe toben, wenden sich in der Sommerpause viele von uns ihrem privaten Umfeld zu, das einerseits Zuflucht, Ruhepol und den ganz eigenen, eben nichtschulischen, nichtberuflichen Bereich darstellt. Damit geraten die familiären und freundschaftlichen Bande stärker in unseren Blick, die uns alle, unabhängig von unserer Herkunft, binden, glücklich machen, aber auch herausfordern. Einer der besonders bereichernden, wertvollen Momente des vergangenen Schuljahres war der Besuch des jungen Autors Necati Öziri am Konrad-Adenauer-Gymnasium. Im Rahmen unserer Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Bonn durften Schülerinnern und Schüler eines Deutsch-Grundkurses in der Stufe Q1 den Autor willkommen heißen, dessen gerade neu erschienener Roman Vatermal auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis vertreten war, und eine Lesung mit Necati Öziri gestalten.

Die kraftvolle, frische Sprache Öziris, der als Theaterautor in Berlin gearbeitet hat, entfaltete sehr schnell eine Sogwirkung auf die Gäste in der Aula, als er auf Wunsch des Kurses ausgewählte Textstellen las. Der Erzähler Arda, der schwerkrank in einem deutschen Krankenhaus liegt, schildert die Geschichte seiner türkischen Familie: Seine eigene Geschichte ist die eines Jugendlichen der zweiten Generation von Einwanderern, der im Grunde wie viele seiner Freunde vaterlos aufwächst und sich nun reflektierend an seinen abwesenden Vater wendet, aber auch die Geschichte zweier starker Frauen, nämlich seiner Mutter Ümran und seiner Schwester Aylin, die sich jeweils auf ihre ganz eigene Weise bewähren. Das überraschende an diesem Werk ist die gelungene Balance zwischen Sprachwitz, scharfer Beobachtung und unaufdringlich empathischer Tiefe, mit der wir die Figuren Öziris als Leserschaft begleiten, wenn die Natur mit elementarer Gewalt zuschlägt, Menschen für ihre politischen Überzeugungen kämpfen und auch Verrat an Freunden und eigenen Idealen begehen und Biographien abrupt abreißen. Hier versuchen Menschen unter widrigsten äußeren Bedingungen ihre Würde zu behalten und das Ergebnis ist in der Tat, dass wir hier nicht das Trennende zwischen den Kulturen, sondern das Verbindende im grundsätzlich Menschlichen sehen und so bei aller möglichen Be-Fremdung so manchen Blick in den Spiegel werfen, anstatt platt zu bewerten.

Zugleich werden wir als Leserschaft von spannungsvollen Wendungen am Ende der Erzählstränge um Arda, seine Mutter, seine Schwester und die Lebensläufe seiner Kumpels gepackt.

So weit zum Vergnügen, das die Leser des im Sommer 2023 erschienenen Romans erwartet. Unser Vergnügen war es, Marie-Khandro Everding und  Zakareya Mustapha am 10. März 2024 als wunderbares Moderationsteam und den Deutschgrundkurs als gastfreundschaftliche Gastgeber mit anregenden Informationen und unterhaltsamen Interaktionen mit dem Autor zu erleben, die unser Publikum häufig zum Staunen und Schmunzeln gebracht haben.  Danke auch an Kai Trimpler für seine musikalische Begleitung am Saxophon und an das Technikteam um Dr. Adler.  Vor allem aber geht unser Dank an den Autor und Gesprächspartner Necati Öziri, dessen tiefgründige Offenheit, ernsthafte Nachdenklichkeit und unbestechliche Persönlichkeit wir einen Abend lang erleben konnten.

Noch einmal ein riesiges Dankeschön an das Team vom Literaturhaus Bonn mit Miriam Kalliwoda, Charlotte Hübner und Marina Schink.

J. Juhre